<<Start --Industriegebiete und Industriegleisanlagen

Wohnen in frühindustriellen Zeiten


gemeinnützige Wohnbau-Genossenschaften

In den eigenen vier Wänden zu wohnen war immer ein wichtiges Lebensziel. Auch wenn das Häuschen nur aus zwei Räumen bestand sollte doch meist auch ein Gartenteil zur Selbstversorgung dazu gehören. Während dieses Ziel bis in die Anfänge der Neuzeit selbst für Tagelöhner noch erreichbar erschien wurde die Bildung von Wohneigentum für abhängig Beschäftige zum Ende des 19.Jahrhunderts auch in Ulm immer schwieriger.


Wie sollte man mit den Stadtbewohnern umgehen, denen es absehbar nicht gelingen wird, durch eisernes Sparen und durch Untervermietung kreditfinanzierte Arbeiterwohnhäuser zu erwerbern?.


Sah man die Wohnungsfürsorge als Aufgabe der Arbeitgeber und der öffentlichen Hand? Die großen Betriebe und Zechen im Rheinland mit ihren Werkssiedlungen hätten als Vorbild dienen können. Das Königreich Württemberg und die Stadt Ulm hatten mit ihren →Arbeitersiedlungen erste Zeichen gesetzt. Für eine größere Zahl an Betriebswohnungen fehlten den Ulmer Unternehmen allerdings noch die finanziellen Grundlagen.


Vertraute man besser den schon bekannten und z.B. von Adam Smith beschriebenen Regeln der freien Marktwirtschaft und überließ den Wohnungsbau Bauunternehmern, Aktiengesellschaften und Investoren? In Berlin entstanden so die großen Mietskasernen der Gründerzeitviertel, deren überwiegend fragwürdige Zustände in den „Milljöh“-Zeichnungen von Heinrich Zille festgehalten sind.


Oder folgte man lieber der neuen, in manchen Kreisen noch als sozialistisch-sozialdemokratisch beleumundeten Idee des genossenschaftlichen Wohnungsbaus?


Obwohl in seiner Grundeinstellung durchaus konservativ und kaisertreu war Ulms OB Wagner (1891-1919) ein überzeugter Verfechter der Genossenschaftsidee. Neben der städtischen Sparkasse, die vorrangig Kredite zum Bau von Wohnhäuser an Unternehmer vergab, war in seinem Rathaus auch der am 22.Juni 1891 gegründete Wohnungsverein Ulm untergebracht, dem der Stadtbaumeister Romann vorstand.
Der Wohnungsverein war eine "Aktiengesellschaft zur Herstellung von Wohnungen für ärmere und weniger bemittelte Einwohner", er besaß große Mietshaus-Komplexe in der Oststadt (u.a. Wielandstr. 7-25 u. Bachstr. 9-23).
Die Berufsangaben der Mieter, Hutmacher, Rohrzieher, Maschinist und Fabrikarbeiter, deuten an, dass der Großteil der Bewohner in den umliegenden Fabriken von Mayser, Eberhardt und Wieland beschäftigt war.


Im Westen der Stadt folgte noch vor der Jahrhundertwende (ab dem 2.5.1896) der Spar- u. Bauverein Ulm dem Beispiel. Ihm gehörten u.a. die Gebäude Arsenalstraße 15-23, in der Goethestraße die Nr.1 bis Nr.11 und die Böblingerstraße 281-8. Hier wohnten, neben Kanzleigehilfen und Postunterbeamten (Böblingerstr.), Lokomotivführern und Bahnpostschaffnern (Goethestr.), auch ein Aufseher im Elektrizitätswerk und ein Straßenbahnwagenführer (Arsenalstr.).
Der Spar- und Bauverein war eine eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftung (e.Gen.m.b.H.) mit dem Zweck der "Erstellung hygienisch einwandfreier, gesunder Wohnungen". Der Geschäftsanteil der Genossen betrug jew. 200 Mark, die in wöchentlichen Raten von 50 Pfg eingezahlt werden konnten.

Vignette am Eckhaus Goethestr. 6 / Böblingerstr. 26

Inschrift:

Spar- und Bauverein Ulm GmbH / Gegründet im Jahre / 1896 / unter dem Wahlspruch / Einer für Alle / Alle für Einen / ... (unleserlich)
ANNO DOMINI / 1936 / an dem 40.Jahrestag / der Vereinsgründung / haben wir dieses Haus / gebaut und vollendet / 232 / Wohnungen wurden / dadurch neu geschaffen


Ernst Bogenschütz,
Stadtrat und Gründer
der Ulmer Baugenossenschaft
Am 1.8.1904 kam auf dem Ulmer Mietwohnungsmarkt die Ulmer Baugenossenschaft dazu. Sie errichtete ihre Wohnhäuser hauptsächlich zwischen der soeben neu entstandenen Zinglerstraße und dem unteren Galgenberg.
Der satzungsgemäße Zweck lag zwar ebenfalls in der "Beschaffung von billigen, gesunden Familienmietwohnungen und von Etagenhäusern für die minderbemittelten Genossen". Die Wohnungen z.B. in der Georgstraße (Nr.3-10) wurden jedoch schon in den 1920er Jahren überwiegend von einer gehobeneren Einkommensschicht bewohnt. Hier waren u.a. ein Oberst, ein Regierungsrat und der Stadtpfarrer Immanuel Friz gemeldet.

Noch vor dem 1.Weltkreig hatte in der Frauensteige 2 der Bauverein Ulm seine Geschäfststelle eingerichtet.
Zum "Erwerb von Eigentum bzw. von Gebäulichkeiten für die Kulturbedürfnisse der Methodisten" konstituierte sich der Bauverein der Bischöflichen Methodisten in Ulm. Ihr Wohnhaus in der Schillerstr. 28 beherbergte im Erdgeschoß die Ehingertor-Kapelle, in den Obergeschoßen Wohnungen für einen Prediger, einen Telegraphen-Vorarbeiter und einen Maschinisten (Stand 1912).
Im Lehrer Tal unterstützte der Deutsche Hilfs- und Siedlungsbund Württemberg den Bau von Wohnhäusern.


Zwischen den Weltkriegen wurden neben der Gemeinnützigen Baugenossenschaft Heimstättenkolonie Ulm (1919) und der Ulmer Wohnbau e.Gen.m.b.H (1925) auch die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Ulm-Söflingen gegründet.
Die Heimstättenkollonie hatte ihre ersten kleinen Häuser in der Pfeifer- und Trommlergasse am Unteren Kuhberg. Die wenige Jahre später gebauten Wohnungen in der verbindenden Heimstättenstraße waren jedoch im Besitz der Stadt Ulm.
In der Karlstraße 113 steht noch heute der erste große Mietwohnungsbau der Ulmer Wohnbau Genossenschaft. Bewohner waren damals neben einem Schuhmacher überwiegend Kaufleute.
Auch die Deutsche Bau- und Siedlungsgemeinschaft Darmstadt hatte ab 1930 in Ulm eine Ortsgruppe. Die Genossenschaft wurde später zur Deutschen Bausparkasse Badenia.


Die Wohnungs-, Spar- und Bauvereine waren Selbsthilfeeinrichtungen zur Finanzierung von Wohneigentum, die im Prinzip ähnlich der von Friedrich von Bodelschwingh 1885 in Bielefeld gegründeten Bausparkasse funktionierten. Die Mitglieder dieser Solidargemeinschaften sammelten durch monatliche Sparleistungen einen Kapitalstock an, aus dem Darlehen für den Bau von Wohnungen vergeben werden konnten. Alternativ erhielt man durch eine Mitgliedschaft in der Genossenschaft, die meist mit einer Einlage in Höhe mehrerer Monatsmieten verbunden war, das Recht, Wohnungen in den mit dem Kapital errichteten Häusern zu beziehen. Grundlage war das 1889 erlassene sog. Genossenschaftsgesetz. Als gemeinnützige Einrichtungen gewährte man ihnen 1930 eine weitreichende Steuerbefreiung.


In der Zeit des nationalsozialitischen Regimes wurden auch die Genossenschaften gleichgeschaltet, Vorstände und Aufsichtsräte zwangsweise neubesetzt und kleinere Genossenschaften zur besseren Steuerung fusioniert. Aus fünf Ulmer Genossenschaften entstand so die Ulmer Heimstätte GmbH.


Nach dem 2.Weltkrieg herrschte auch in Ulm großer Mangel an Wohnraum. Es waren nicht nur die Wohnungen vieler Ulmer zerstört worden. Die Stadt wurde auch zum größten süddeutschen Flüchtlingslager und stand vor der Aufgabe, Ersatz zu schaffen für die übergangsweise als Unterkunft genutzten Kasernen und die mit mehreren tausend Bewohnern belegte Wilhelmsburg.


Auswärtige Wohnbaugenossenschaften wie die Stuttgarter "Selbsthilfe" und die "Flüchtlings-Wohnbau", heute FLÜWO Bauen Wohnen eG, die zahlreiche Mietwohnungen am Eselsberg und in Böfingen errichteten, sowie neu gegründete Selbsthilfeeinrichtungen wie die Bau- und Siedlungsgenossenschaft (BSG) "Aufbau", unter deren Regie ganze Reihenhaussiedlungen entstanden, trugen erheblich zur Entspannung der Wohnungsnot bei.


Die im Westen des geteilten Deutschlands praktizierte soziale Marktwirtschaft brachte in der Nachkriegszeit ein Wirtschaftswachstum mit sich, das zunehmend auch einfachen Arbeitern den Erwerb von Wohneigentum erlaubte.
Bestrebung zur Öffnung des florierenden genossenschaftlichen Wohnungsmarktes veranlassten 1990 die damalige christlich-liberale Regierung die Wohnungsgemeinnützigkeit abzuschaffen, den gemeinschaftlichen Sozialwohnungsbau dem ertragsorientierten freien Immobilienmarkt gleichzustellen und bei der Wohnbauförderung auf eine dauerhafte Sozialbindung zu verzichten.
In der Folge mussten zahlreiche Genossenschaften ihren Geschäftsbetrieb einstellen, ehemals genossenschaftlicher Wohnraum wurde an große Immobilienunternehmen verkauft. Auf dem Markt für einfache und günstige Wohnungen entwickelten sich teilweise monopolartige Strukturen.


Heute ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt zwar wieder angespannt und die Bildung von Wohneigentum für untere Einkommenschichten so schwer wie lange nicht. Mit einer Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit und einem erneuten Aufblühen von Wohnbau-Genossenschaften kann aber aus wirtschaftsideologischen Gründen nicht gerechnet werden. Sozialverträgliche Mieten liegen ausserhalb der Interessen der Vertreter deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen.


Die noch aus den Gründerzeiten stammende Ulmer Grundstückspolitik fördert aber weiterhin die Wirtschaftlichkeit der Ulmer Wohnungs- und Siedlungs-Gesellschaft UWS, der Ulmer Heimstätte eG, der BSG Aufbau und von mehreren auswärtigen Genossenschaften. In Neu-Ulm ist die NUWOG als kommunales Wohnungsunternehmen tätig.


ehemalige Eisenbahner-Mietshäuser

In der Wanne
im Bestand der Landes-Bau-Genossenschaft Württemberg eG (LBG)
Bleicher Haag
im Besitz eines Immobilien-Unternehmens


mehr zum Thema

Die Ulmer Heimstätte hat anlässlich ihres 125-jährigen Jubiläums eine interessante Dokumentation zusammengestellt und →online veröffentlich.
Eine →QR-Code Tour führt zu noch erhaltenen Gebäuden aus der Gründerzeit der Vorgänger-Genossenschaften.
Quellen:
Ulmer Heimstätte →Historie (Stand: 24.6.2024)
Stadtarchiv Ulm, Adressbuch 1812 - 1939

alle Fotos: © M.Pötzl, 2024

letzte Aktuallisierung Seite u. Links: Juni 2024