<< Gestern und Heute

Der Ulmer Rockefeller-Plan
Eine technikgeschichtliche Verschwörungstheorie aus der Zeit vor Corona


Stellen wir uns einmal vor, wir lebten gerade in den USA der 1940er Jahre und bekommen folgende Geschichte zu hören:


"Also ich weiß es genau, das ist ein Komplott unserer Wirtschaftsbosse. Die wollen uns die Straßenbahn wegnehmen und uns zum Auto zwingen. Die da oben sorgen dafür, dass die Straßenbahnbetriebe pleitegehen damit wir deren Autos kaufen.
Rockefeller, Durant und Firestone haben das schon vor ein paar Jahren beschlossen und jetzt machen sie ernst. Ich glaube das ganz sicher, weil mir das von einem Mitarbeiter bei einem Busunternehmen erzählt wurde, der dabei mitmacht. Und dass es stimmt sieht man ja auch in unseren Straßen, immer mehr Autos und immer weniger Straßenbahnen."

Eine abwegige Verschwörungstheorie?
Beileibe nicht! Der wahre Kern der Geschichte ist inzwischen als Tatsache anerkannt und mündete 1950 in einer Verurteilung der drei genannten Wirtschaftsführer wegen einer kriminellen Verschwörung.
Nachzulesen u.a. bei wikipedia unter dem Schlagwort -» Der Große Amerikanischer Straßenbahnskandal

John D. Rockefeller war Chef der berüchtigten Standard Oil Company und William C. Durant Gründer von General Motors, einem Unternehmen, das noch im Gründungsjahr seine Konkurrenten Buick und Oldsmobile aufgekauft hat. Und auch die Reifenfirma von Harvey Firestone gerät schon Ende der 1920er Jahre wegen Kinderarbeit und andere Menschenrechtsverstöße in die Kritik.
Trotzdem muss man diese drei als die Bill Gates, Steven Jobs und Elon Musks jener Zeit betrachten.


BahnhofsvorplatzUlmer Bahnhofsvorplatz 1981
Quelle: facebook - J.Kerler, 16.10.2023
Auch Ulm stand in den 70er und 80er Jahren vor einer ähnlichen Situation. Die letzte verbliebene Straßenbahnlinie zwischen Söflingen und der Donauhalle war kaum noch wirtschaftlich zu betreiben. Von politisch gewichtiger Seite kam der deutliche Ruf, die Linie auf Busverkehr umzustellen und damit die vor Ort ansässigen Bushersteller zu unterstützen.

Ausser der Firma Kässbohrer, die neben ihren Reisebussen in Zusammenarbeit mit der Braunschweiger Firma Büssing auch Linienbusse herstellte, war auch Magirus in dieser Fahrzeugsparte aktiv. Deren Busse wurden zwar in Mainz montiert, aber natürlich war die Firmenleitung daran interessiert ihre Produkte auch am Stammsitz zu präsentieren.

Der Ulmer Omnibusbauer Böbel spielte zu der Zeit schon keine Rolle mehr auf diesem Markt.

War etwa der Niedergang des vor dem Krieg vier Linien umfassenden Ulmer Straßenbahnnetzes ein Ergebnis erfolgreicher Lobbyarbeit eben jener Fahrzeugbauer? Überlebte die Linie 1 nur deswegen, weil der Straßenbahnbetrieb als Teil der Stadtwerke nicht von einem privaten Unternehmen aufgekauft und danach abgewickelt werden konnte, wie es die National City Lines in Amerika vorgemacht hatten?
Oder wurde die "Strambe" hauptsächlich durch ein großes bürgerschaftliche Engagement gerettet, wie in manchen Kreisen heute gerne noch kolportiert wird?


1960
Quelle: facebook - J.Kerler, 24.11.2023
2014

Wie bei allen Verschwörungstheorien gibt es auch hier wahre Kerne, die für jede erdenkliche Interpretation als Beweis herhalten könnten. Sogar die Akteure jenes Dramas leben heute teilweise noch, man könnte sie also befragen. Aber wären ihre Aussagen objektiv? Und würden sie dann auch als Fakten akzeptiert und nicht gleich wieder durch andere Theorien in Zweifel gezogen werden?
Inzwischen kann niemand mehr ernsthaft die Zukunftsfähigkeit des Nahverkehrsmittels Straßenbahn bezweifeln. In der Diskussion um neue Linien in Ulm wird dennoch weiter damit argumentiert, dass schienengebundene Verkehrsmittel nur unflexibel auf Unfälle und Baustellen reagieren können und es dadurch oft zu Ausfällen und Vespätungen käme.
Dabei wird selten berücksichtigt, dass Straßenbahnen, wo immer es möglich ist, auf einer eigenen Trasse verkehren, die vom unfall-trächtigen Autoverkehr und von im Boden liegenden Versorgungsleitungen frei gehalten wird. Innerstädische Busspuren, die auch für einen beschleunigten Nahverkehr sorgen sollen, können oftmals durch blockierende Lieferfahrzeuge, bremsenden Radverkehr usw., ihre Funktion nicht erfüllen.

Der Mythos, den Rockefeller und seine Kumpanen in die Welt gesetzt haben um ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen, scheint also auch heute noch für manches brauchbar zu sein.

Wer sich jenseits aller Verschwörungstheorien über die Geschichte der Ulmer Straßenbahn informieren will möge das Buch "100 Jahre Strassenbahn Ulm/Neu-Ulm" von Daniel Riechers (ISBN: 3-88294-239-8) lesen oder sich die Webseiten von Alexander Schatz ansehen -» Eisenbahnen in Ulm, um Ulm und um Ulm herum --> Straßenbahn Streckenkunde



letzte Aktuallisierung Seite u. Links: Dez. 2023