Wie in allen Ulmer Industriegebieten, die vor dem 2.Weltkrieg entstanden sind, liegen in der Oststadt die Bereiche für Wohnen und Arbeiten eng beieinander.
Aber anders als in der →Weststadt und besonders dem Gebiet →Neustadt / Im Boden, wo ein breites unternehmerisches Spektrum anzutreffen ist, dominieren in der Oststadt fünf Großbetriebe, kleinere Unternehmen finden sich hier kaum.
Mit dem Ende dieser großen Fabriken verliert der Stadtteil sein industrielles Erscheinungsbild und wandelt sich ab dem letzten Quartal des 20.Jahrhunderts zu einem Quartier, in dem neben einer modernen, innerstädtischen Wohnbebauung auch der Dienstleistungssektor stark vertreten ist.
An der östlichen Promenade
Nach der von Napoleon erzwungenen Öffnung der mittelalterlichen Stadtmauern verfüllte die Stadt große Teile des Stadtgrabens und nutzte das Gelände, um dort einen breiten Grüngürtel zur Erholung für ihre in einer dicht bebauten Stadt lebenden Bürger anzulegen.
Entlang dieser sog. Promenade, die vor der Jahrhundertwende noch von der Wilhelmshöhe im Westen bis zum Schiffberg im Osten reichte, konnten nicht nur wohlhabenden Bevölkerungsschichten ihre repräsentativen Wohnbauten mit großen Gärten errichten. Hier war auch Platz für Betriebe, die in der engen Innenstadt keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr fanden und mit ihren Fabrikneubauten vor den alten Stadttoren zukunftsfähig werden konnten.
Ab Mitte der 1890er Jahre durchzogen neue Straßen auch die Bereiche östlich des städtischen Friedhofs (s. → Alter Friedhof).
Das Zundeltor am Seelengraben wurde über die Friedensstraße mit dem beim Bau der Bundesfestung neu entstandenen Stuttgarter Tor verbunden.
Im gleichen Jahr (1897) entsteht weiter östlich davon die König-Wilhelm-Straße. 1902 folgt die Schülinstraße, zwei Jahre später die Gutenbergstraße und der Staufenring. Die Schülinstraße gab es allerdings schon vorher, hieß da jedoch noch Verlängerte Zeitbomstraße. Hier hatte in der Nr. 12 (ehem. Zeitblomstr. 100) die Mechanische Tricotwarenfabrik
→ Burkardt & Moos
ihren Sitz.
Den innerhalb der Bundesfestung liegenden Bereich der Oststadt schließen nach Norden und Süden die schon Jahrzehnte zuvor angelegte Karl- und die aus der Promenade hervor gegangene Olgastraße ab.
Ab 1908 verbindet dann die →Straßenbahn mit der Linie 3 durch die Karlstraße und der Linie 4 durch die König-Wilhelm-Straße die Oststadt mit der Stadtmitte.
In diesem Geviert, das im Süden durch das große Fabrikgelände der Wieland-Werke bei der Spitalmühe begrenzt wird, erwirbt →Georg Ott ein Grundstück auf dem er neben seiner Werkzeugfabrik auch ein Wohnhaus für sich errichtet.
Ott steigt mit seinem Unternehmen zu einem führenden Hersteller für Maschinen der holzverarbeitenden Industrie auf und zieht 1998 in das Industriegebiet Donautal. Das Firmenareal zwischen der Friedens- und der König-Wilhelm-Straße wird mit Wohnhäusern bebaut. Am 6.2.2002 muss Ott Insolvenz anmelden.
In den 1930er Jahren siedelt sich ihm gegenüber, auf der anderen Seite der König-Wilhlemstraße,
→ Albert Ege
mit seiner Wäschefabrik an. Das Unternehmen besteht heute noch an dieser Stelle.
Auf dem Gelände des ehem. Schlachthofs, der 1883 an der Südseite der Promenade eröffnet wurde, wird am 30.3.1977 der Grundsteinlegung für einen Neubau der Allgemeinen Ortskrankenkasse AOK gelegt. Die Schlachthausstraße wird nach dem Sozialpolitiker Joh. Hinrich Wichern (1808-81) in Wichernstraße umbenannt. Der Straßenbahn-Betriebshof neben dem Schlachthof war schon 1927 aufgegeben und in die Weststadt verlegt worden. Die Verwaltungsgebäude des daneben gelegenen Elektrizitäts-Werks am Berliner Platz (jetzt Willy-Brandt-Platz) nutzt heute noch die Stadt Ulm für ihre Bauverwaltung.
Berliner Platz, Ende der 1960er Jahre
Beim Haus des Vereins Kleinkinderschule Untere Bleiche e.V, später ev. Kindergarten, Staufenring 47
Vor dem Frauen- und Gänsthor
Schon zu reichsstädtischen Zeiten wurden die Donauauen im Osten der Stadt intensiv gewerblich genutzt. Hier lagen große Bleichwiesen und der auf der Nordseite der Stadtmauer entlang führende Stadtgraben hatte genug Kraft um mehrere Mühlräder anzutreiben, bevor er in die Donau mündet.
Noch zur mittelalterlichen Stadtbefestigung gehört das Seeltor. In der ersten Hälfte des 19.Jahrhundert entwickelte sich rund um diesen Bereich ein Zentrum der Ulmer →Zundelmacher. Manche der oft nur wenige Mann beschäftigenden Betriebe nannten sich zwar schon "Fabrik", die damalige Begriffsinterpretation unterschied sich aber wesentlich von der heutigen und sagte nichts über den Industrialisierungsgrad aus. Das Seeltor ist heute unter dem Namen Zundeltor bekannt. Es beherbergt ein kleines Museum zur Geschichte der Ulmer → Brunnenwerke.
Vor dem Frauentor lag die
→ Spitalmühle
mit zwei Mahlgängen und einem Gerbgang.
Der Ulmer Industrie-Pionier
→ Johann Georg Krauß
baute sie nach 1836 zu einer mechanischen Werkstatt und später zu einer Baumwollweberei um. Die dort eingesetzten Maschinen wurden noch von Mühlrädern im östlichen Stadtgraben angetrieben. Allerdings reichten diese Wasserkräfte bald nicht mehr aus für die ständig wachsende Zahl an Webstühlen. Krauß verkauft daher die Mühle 1859 an den Glockengießer
→ Philipp Jakob Wieland
.
Unter ihm entwickelt sich in der Oststadt ein Messingwerk von internationaler Bedeutung. Die
→ Wieland-Werke AG
behalten bis 1982 ihren Firmensitz bei der Spitalmühle am späteren Berliner Platz, heute Willy-Brandt-Platz. Im November 1982 ziehen die Wieland-Werke ins →Industriegebiet Donautal um. Das Firmen-Bürogebäude wird Dienstsitz für vier städtische Einrichtungen, auf dem Firmengelände entstehen umfangreiche Wohnbauten.
Weiter im Osten, den Stadtgraben hinab, liegt die seit ca. 1540 bekannte aber um 1775 nochmal neu aufgebaute
→Papiermühle
. Sie zählt nach den Maßstäben der damaligen Zeit zu den ersten Fabriken in Ulm.
Nach dem Tod des letzten Papiermüllers Jakob Beck 1873 wurde die →Papierherstellung eingestellt. In die Gebäude zogen kleine Handwerker mit ihren Betrieben ein bis die → Gebr. Eberhardt die Mühle für sich entdeckten.
Sie hatten 1854 in der Nähe des Salzstadels eine Werkstatt für Kutschen gegründet, stiegen aber bald auf besser zu verkaufende Pflüge um. Damit wurden sie dann so erfolgreich, dass schon zehn Jahre nach der Gründung ein Umzug in neue Gebäude notwendig wurden. Die dann an der Ecke Keplerstr. 2 / Olgastraße 59 errichtete Fabrik blieb jedoch nicht lange der Firmensitz, bereits um 1880 wird es den Eberhardts auch in diesem Werk zu eng, sie verlegen daher Teile ihrer Pflug- und Kutschenproduktion in die Gebäude der Papiermühle.
Ihr Geschäft lief auch dort weiterhin sehr gut, 1895 reichen sie deshalb ein Gesuch zum Kauf von Grundstücken zur Fabrikerweiterung auf der Unteren Bleiche ein. Es kommt jedoch zu Streitigkeiten mit der Stadt über die Dauer des Wiederkaufsrechts und den Kaufpreis die bis 1908 andauerten. Streitpunkte waren neben dem Quadratmeter-Preis, der wesentlich über dem lag, was die Stadt dem Reich für das ehemalige Vorfeld der Bundesfestung gezahlt hatte, auch das 30-jährige Wiederkaufsrecht, mit dem die Stadt Grundstücksspekulationen vorbeugen wollte.1
Der Kauf kam dann aber doch noch zustande, der Standort entwickelt sich in den Folgejahren zum endgültigen Firmensitz des Unternehmens. 1970 geriet die Firma jedoch in Zahlungsschwierigkeiten. Zur Abwendung eines Konkurses musste das weitläufige Stammgelände in der Oststadt verkauft werden. Heute steht dort der moderne Wohnpark Friedrichsau. An die Pflugfabrik erinnert nur noch die das Viertel erschließende Eberhardtstraße.
Zwischen der Spital- und der Papiermühle liegt die
→ Untere Bleiche
, deren Walkwerke ebenfalls vom östlichen Stadtgraben angetrieben wurden. Die Stadt Ulm kauft 1890 weite Teile des Areals um dort eine → Arbeitersiedlung zu bauen. Schon um 1870 hatte sie den benachbarten Niederländer Hof und die Kleemeisterei erworben und dort eine "Armenbeschäftigungsanstalt", ein Heim für mittellose Bürger, eingerichtet.
In die Gebäude der alten Walke, die noch der Familie Kiderlen gehörte (s. →Alter Friedhof, Grab 15), zieht kurz vor der Jahrhundertwende die Lederfabrik von
→ Gabriel Lebrecht
ein. Und auf einem freien Grundstück der Bleiche baut ab 1902 der Stadtrat und Landtagsabgeordnete
→ Friedrich Mayser
seine Hutmanufaktur.
Erschlossen wird der Bereich der Unteren Bleiche hauptsächlich durch die Örlinger- und die Gutenbergstraße, die beide 1904 angelegt wurden. Im gleichen Jahr werden auch die Böfinger- und die Talfinger Straße eingeweiht.
Die Hutfabrik Mayser erhält nun die Adresse Örlingerstraße 1-3. Nach dem 1.Weltkrieg kommt auch Max Wagowski mit seiner Zigarettenfabrik
→ "Lyra"
für kurze Zeit in diesem Haus unter. Die Lederfabrik Lebrecht, die vorher die Anschrift Ausserhalb 43/2 trug, residiert nun in der Talfinger Straße 5. Im Zuge einer Erweiterung der Pflugfabrik Eberhardt wird die Talfinger Straße geteilt und gekürzt. Der nordöstliche Abschnitt, an dem noch das Festungsgefängnis steht, bekommt den Namen Seestraße.
1912 erwerben Sebastian und Lorenz Wuchenauer das Grundstück Böfinger Straße 8, verlegen ihr Baugeschäft aus der Griesbadgasse in die Oststadt und erweitern es um eine Kohlenhandlung. Das inzwischen fertig gewordene →Ostgleis zog auch die Landwirtschaftliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft Ulm an, die ab 1923 in der Örlinger Straße 30-32 ein Mühlengebäude mit Lagerhaus errichtete. Südlich davon richtete 1934/35 die Stadtverwaltung in der Gutenbergstraße 31 einen Bauhof ein, der heute noch besteht.
Einschneidende Veränderungen erfuhr der Bereich zwischen der Wieland- und der Talfinger Straße in den 1970er Jahren. Das Firmengelände der talmudisch-mosaischen Familie Lebrecht war noch vor dem 2.WK von Eberhardt übernommen und als Werk II für eigene Zwecke genutzt worden. Nach dem Verkauf der Ulmer Grundstücke wegen einer drohenden Insolvenz des Pflugherstellers überplante die Stadt den Bereich nördlich des Stadions neu und legte den noch offenen Stadtgraben still. Neben zwei Einkaufsmärkten und einem Reifenhändler konnten sich hier nun mehrere Handwerksbetriebe ansiedeln. Aber auch der traditionsreiche Name Eberhardt blieb über einen Autohandel weiter erhalten.
Quellen: 1: Rainer Stuber - Aspekte württemb. Regionalindustrialisierung: Ulm 1810-1914; Diplomarbeit am Lehrstuhl für wirtschafts- u. sozialgeschichte d. Universität Mannheim, 1988
Stadtarchiv Ulm: StAU B 830/10 Nr.2; StAU B 005/5 Ratsprotokoll v. 11.6.1909 §§987,1962; RProt. v. 16.5.1907 §1084; RProt v. 19.11.1909 §1962; RProt. v. 26.1.1911;
Kartenausschnitte: Beckmann's neuester Plan von Ulm und Neu-Ulm, Verlag Klemm & Beckmann Stuttgart, 1913